24 Tage verbleiben mir noch als Austauschschülerin in Ungarn, bis ich zurück nach Deutschland gehe – zuerst aufs YFU YES-Camp in der Nähe Berlins, und dann schließlich wieder nach Hause. Über den Großteil meiner Erlebnisse habe ich in meinem Blog bereits geschrieben, in diesem Beitrag soll es deshalb um etwas anderes gehen: um Werte und Gefühle. Das sind Dinge, die man weder kaufen, noch auf Fotos festhalten kann, die dir niemand zeigt oder beibringt, sondern sich mit unseren Erfahrungen und unserem Umfeld entwickeln und verändern.
SELBSTSTÄNDIGKEIT
Eine der wohl offensichtlichsten Lektionen, die man im Ausland lernt, ist Selbstständigkeit. Es beginnt schon mit dem Flug alleine in ein anderes Land, das vielleicht zehn oder mehr Stunden entfernt liegt. Okay, in meinem Fall waren es nur zwei, aber trotzdem hatte ich in den darauffolgenden 10 Monaten noch reichlich Dinge, die ich auf einmal alleine erledigen musste. Viele waren banal und eigentlich selbstverständlich, aber trotzdem habe ich vor meinem Austauschjahr nie einen Brief zur Post gebracht, einen Granatapfel aufgeschnitten oder den Trockner bedient, weil sowas in Deutschland immer automatisch meine Eltern erledigt haben. Aber natürlich gab es auch wirklich herausfordernde Situationen, zum Beispiel in der Schule oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in Budapest. Man ist eben in einem unbekannten Land und kommt aus seiner Komfortzone heraus, um die Sachen zu lernen, die noch neu für einen sind, aber schon bald immer vertrauter werden.
ORGANISATION
Um all die neuen Situationen besser zu verarbeiten und unter Kontrolle zu kriegen, muss man sich strukturieren. Für mich ist der Alltag besonders stressig, da meine Schule wegen dem Musikprogramm bis nachmittags oder abends andauert und ich dann eventuell noch zuhause übe, gleichzeitig aber meine Freunde in Budapest treffen und noch Zeit mit meiner Gastfamilie verbringen will. Dazu kommen noch Skype-Gespräche, YFU-Organisationen, das Pendeln von Budapest nach Hause und umgekehrt, Lernen für Musiktheorie, Einträge in mein Tagebuch, meinen Blog usw. – das ist eine Menge mehr als Zuhause in Deutschland, und da dachte ich schon, dass meine Wochentage vollgestopft sind. Trotzdem kriege ich alles meistens irgendwie hin, indem ich Termine in den Kalender schreibe und alle Aufgaben, die mir zwischendurch einfallen, in mein Handy schreibe und zuhause direkt erledige. Was mir außerdem geholfen hat, ist eine Tagesroutine: Wenn die täglichen Aktivitäten immer ungefähr denselben Ablauf haben, spart das viel Zeit und Energie, weil man nicht mehr darüber nachdenken muss. Ich habe trotzdem sehr lange gebraucht, um hier eine zu entwickeln und fühle mich erst seit ungefähr drei Monaten richtig vertraut in meinem Alltag – wenn man darüber nachdenkt, ist es ziemlich erstaunlich, nach wie länger Zeit man sich so wirklich an das Gastland und seine Gewohnheiten anpasst.
ANPASSUNG
Apropos Anpassung: Es ist der Schlüssel zu allem. Die Hinterfragung der bisherigen eigenen Gewohnheiten und die gleichzeitige Akzeptanz von neuen Verhaltensweisen lässt uns offener und toleranter werden. Aber man muss auch das richtige Maß finden: Sich so sehr öffnen, dass man sich mit seiner Familie versteht, Freunde findet, sich im Gastland wohlfühlt – sich gleichzeitig aber nicht selbst verlieren. Man muss eben für sich selbst entscheiden, welche positiven Eigenschaften der andere Kultur man übernehmen will, wie sehr man sich verändern möchte.
Tatsächlich hat meine Bereitschaft zur Anpassung ständig gewechselt: Es gab Tage, da hatte ich mich in meiner Gastfamilie die schönsten Erlebnisse, und es gab Tage, an denen ich einfach keine Lust hatte, am Familienleben teilzunehmen. Diesen Monat waren wir zusammen in Italien und ich fühle mich dort jetzt so wohl wie nie zuvor – ganz wie zuhause eben. Entgegengesetzt verhält es sich in der Schule: Am Anfang habe ich noch reichlich Smalltalk geführt und war offen zu allen, jetzt habe ich einfach keine Motivation mehr dafür. Manchmal bin ich einfach genervt von der Stimmung in der Klasse, aber ich habe auch meine Leute gefunden, mit denen ich mich verstehe und bin jetzt ganz ich selbst, ohne mich extra nett und aufmerksam zu verhalten. Aber das ist okay, denn man kann eben nicht jedem gefallen und überall hineinpassen.
SELBSTBEWUSSTSEIN
Aber wie macht man das überhaupt, ganz man selbst sein? Das ist wohl eine dieser Fragen, die uns unser ganzes Leben lang begleiten werden und auf die man doch keine Antwort bekommt. Ein Stück näher kommt man ihr im Auslandsjahr aber vielleicht trotzdem: man trifft so viele neue Menschen, probiert neue Hobbies aus und ist vielen unbekannten Situationen und Herausforderungen ausgesetzt. In anderen Worten, man wird selbstbewusster. Vielleicht entdeckt man ja sogar eine Welt, in die man besser hineinpasst als in die ursprüngliche.
NATIONALBEWUSSTSEIN
Es gibt durchaus Punkte, die mir in Ungarn besser gefallen als Zuhause, zum Beispiel sind die Menschen höflicher und respektvoller und es gibt viel mehr Kultur (Traditionen, Nationalgerichte, auch musikalisches und künstlerisches Interesse). Aber ich bin trotzdem glücklich, in Deutschland zu leben, was mir erst in Ungarn so richtig klar geworden ist. Hier ist nämlich schon einiges schlechter geregelt und läuft nicht so organisiert ab, und die westlichen Länder werden als Vorbilder bewundert. Die deutsche Sprache ist übrigens sehr beliebt und wird von vielen als Fremdsprache gelernt, weshalb sie für mich ebenfalls inzwischen viel schöner klingt.
Ich persönlich hatte während meines Austauschjahres zwar trotzdem nicht wirklich Heimweh, dennoch hat sich auch meine Sicht auf mein Zuhause im Speziellen verändert: Ich weiß es jetzt viel besser zu schätzen, dass ich ein eigenes Zimmer habe, dass meine Mutter jeden Tag kocht oder dass mein Vater alles, was ich ihm in die Hand drücke, reparieren kann. Auf diese Dinge freue ich mich schon, wenn ich in vier Wochen zurückgehe.
FERNBEZIEHUNG
Außerdem freue ich mich auf das Wiedersehen meines Freundes. Ich kann mir vorstellen, dass viele andere in der Situation sind, in der ich vor einem Jahr war, deshalb möchte ich ein bisschen über meine Fernbeziehung schreiben. Für meinen Freund und mich stand immer fest, dass wir uns nicht trennen werden, sondern versuchen, die Zeit zu überstehen, solange ich im Ausland bin. Und es hat funktioniert, auch wenn manchmal Zweifel aufkamen. Denn es gab Phasen, in denen die Gefühle für den anderen ziemlich in den Hintergrund gerückt sind, doch schon bald darauf wurden sie wieder durch Zeiten ersetzt, in denen man sie deutlich wahrgenommen und den anderen vermisst hat. Alles in allem lief es viel besser und harmonischer als ich dachte – ich bin stolz, dass wir er geschafft haben. Natürlich ist es nicht die Lösung für jeden, zusammenzubleiben: Wenn man sich wegen der Fernbeziehung nicht richtig auf sein Auslandjahr konzentrieren kann, weil man die ganze Zeit streitet, macht es durchaus Sinn, sich fürs erste zu trennen – dasselbe gilt auch dafür, wenn man sich wegen der Beziehung eingeschränkt fühlt. Wichtig ist nur, dass man immer ehrlich bleibt und über die jeweiligen Vorstellungen spricht. Ich würde es jedenfalls immer erst einmal versuchen und dann sehen, wie beide damit zurechtkommen. Auf keinen Fall würde ich wegen dem Partner aufs Ausland verzichten – denn wenn die Fernbeziehung nicht funktioniert, hätte es das wahrscheinlich auf lange Sicht genauso wenig. Und ein Austauschjahr ist schließlich eine große persönliche Entwicklung mit lauter unvergesslichen Erfahrungen.
Lucia